
Die gestundete Zeit
Dieses Gedicht von Ingeborg Bachmann begleitet mich schon lange. Es geht darin um das Loslassen und Aufbrechen.
Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Diese Zeilen habe ich bisher auf mein persönliches Leben bezogen. Bereit sein für den Aufbruch war mein grundlegendes Gefühl. Früher habe ich gedacht, ich sei einfach freiheitsliebend. In den letzten Monaten habe ich mich intensiv mit der Geschichte meiner Familie beschäftigt. Dabei habe ich verstanden, wie die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges auch in meiner Lebensgeschichte Spuren hinterlassen haben. Meine Eltern mussten ihre Heimat verlassen. Ihr neuer Wohnort Berlin wurde meine Heimat, aber irgendwann wollte oder musste ich weg. Nach vielen Jahren im Ausland, immer bereit den Schuh zu schnüren, bin ich nun in der alten Heimat meines Vaters gelandet. Zufall?
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
In den Jahren der Pandemie und den Monaten des Krieges in der Ukraine haben die Zeilen einen neuen Sinn bekommen. In Deutschland haben wir einige Jahrzehnte in großer Sicherheit und steigendem Wohlstand gelebt. Kaum ein Land der Welt macht es seinen Bürgern so einfach, auch ohne viel Geld gut zu leben. Kriege, Katastrophen und Klimakrise ? Alles weit weg. In Asien und in Südeuropa war manches deutlicher zu sehen.
Jetzt kommen ohne Zweifel härtere Tage, die Krisen dieser Welt kommen näher. Wir sollten besser lernen, das zu schätzen was wir haben. Noch können wir uns am Licht der Lupinen und an vielen anderen Dingen freuen. Das kann sich schnell ändern, wenn der Nebel sich lichtet.
Nun fallen mir auch Sätze meiner Großmutter wieder ein: „wenn bloß kein Krieg kommt…“ , „wenn wir nur nicht wieder wegmüssen…“
Die letzten Zeilen des Gedichts sind ein Auftrag:
Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!
Es kommen härtere Tage.
Der Auftrag enthält auch eine Hoffnung. Denn wir können die Schuhe schnüren und gehen. Wir müssen nicht in der Situation bleiben, sondern können aufbrechen und etwas ändern.
Hier in der Lyrikline kannst du das komplette Gedicht lesen und anhören, gesprochen von der Autorin.
Hier schreibt Hilde Domin über das Gedicht ‚Die gestundete Zeit‘: Das Neue droht, das Alte schützt nicht mehr
Prosa und Lyrik von Ingeborg Bachmann sind unter anderem im Piper Verlag erschienen. Auf der Seite des Verlages ist ein ausführlicher Blog über die Autorin verfügbar.