Der Name dieser Stadt war wochenlang in den Nachrichten.
Eine ukrainische Stadt, eine sowjetische, eine jüdische, eine kosmopolitische Stadt mit einem griechischen Namen.
Natascha Wodin schreibt in ihrem Buch „Sie kam aus Mariupol“:

„Im 18. Jahrhundert hatte Katharina die Große es (die Stadt, CM) den christlichen Griechen aus dem damaligen Krimkhanat geschenkt. Erst nach Mitte des 19. Jahrhunderts durften sich wieder andere Ethnien in dem damaligen Mariopoly ansiedeln.“ (S. 14 f , Zitiert nach der Taschenbuchausgabe, erschienen 2018 bei rororo)
Eine Stadt, die unter dem Bürgerkrieg und der von Stalin in den 30er Jahren verursachten Hungersnot unvorstellbar gelitten hat, die in den 40er Jahren von den Deutschen in Schutt und Asche gelegt wurde, deren jüdische Bürger ermordet und Zehntausende zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden. Nach dem 2.Weltkrieg als „Heldenstadt“ der Sowjetunion für besonders heldenhafte Verteidigung geehrt, wurde sie im Frühjahr 2022 von der russischen Armee wochenlang belagert und wieder komplett zerstört.
2017 las ich „Sie kam aus Mariupol“ von Natascha Wodin zum ersten Mal. Damals hatte Rußland bereits Teile der Ukraine besetzt, der Rest der Welt nahm das hin. Den im Februar 2022 entfesselten Krieg konnte sich damals niemand vorstellen. Wie naiv wir waren.
Mich beeindruckte das Buch durch die tastende Schreibweise, die Poesie der Naturschilderung, und die großartige Kunst eine längst vergangene Welt aufleuchten zu lassen wie eine vergessene Theaterkulisse, auf die noch einmal ein Lichtstrahl fällt. Aus einem zunächst wackligen Scheinwerfer, den die Autorin dann immer sicherer führt.
Natascha Wodin hat in diesem Interview das Buch als ihr ’Lebensbuch’ bezeichnet.
„…damals hatte ich keine Ahnung gehabt von meiner Biographie, ich hatte mein Leben und seine Zusammenhänge nicht gekannt. (…) Erst sehr viel später begann ich zu begreifen, wer meine Eltern waren…“ (a.a.O S. 36)
Ihre Eltern waren Opfer der deutschen Gewaltherrschaft, sie wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Ihre Mutter kam aus einer kosmopolitischen Familie, in deren Geschichte das alte Mariupol lebendig wird.
Die Autorin recherchiert, tastet sich vor, erlebt Zweifel und Rückschläge. Sie nimmt mich mit auf ihre Reise. Damals dachte ich zum ersten Mal daran, meine eigene Geschichte zu schreiben, mein eigenes Lebensbuch.
Meine Eltern, die derselben Generation angehörten wie Wodins Eltern, standen auf der Seite der Täter. Ob und wie meine Mutter und mein Vater schuldig geworden sind, weiß ich noch nicht genau. Aber sie wuchsen auf in einem Land, das mit mehr als 42.000 Lagern für Zwangsarbeiter, Konzentrationslagern und anderen Nazi-Lagern überzogen war. Sie haben die faschistische Ideologie als Jugendliche aufgenommen. Und sich nie ganz davon befreien können.
Natascha Wodin schreibt, sie hätte als Kind gelernt „…dass die Russen Deutschland überfallen, alles zerstört und den Deutschen ihr halbes Land weggenommen hätten.“ (a.a.O. S. 25)
Das habe ich als Kind auch gehört und meinen Eltern natürlich geglaubt. Das Erwachen kam später, und als Jugendliche habe ich ihnen gar nichts mehr geglaubt.
Meine biografische Recherche steht am Anfang, die ersten Konturen werden sichtbar. Der Anstoß durch Natascha Wodin kam zur richtigen Zeit, das Buch begleitet mich seither. Und es hilft mir, die aktuellen Ereignisse in Mariupol und anderen ukrainischen Städten zu verstehen.
Natascha Wodin liest am 10.Juli 2022 im Rahmen des Festivals ’Wege durch das Land’ in Ostwestfalen-Lippe
und am 8. August 2022 auf Rügen, im Rahmen des „Kirchen- und Musiksommers Nordrügen“
Ein längeres Gespräch mit Natascha Wodin anlässlich der Veröffentlichung de Übersetzung ins Französische ist hier zu sehen.