Autobiografische Szenen
1 Der Ernst des Lebens

Jetzt beginnt der Ernst des Lebens, das Schwarzweiß-Foto zeigt es. Kein Schnappschuss, sondern arrangiert in den ’Anlagen’ vor dem neuen Mietshaus in Berlin-Kreuzberg. Ein kleiner Park, aufgeschüttet aus den Trümmern des Krieges. Spärliche Bäume und Sträucher, für mich und die anderen Kinder des Viertels eine Wildnis, den Blicken der Eltern entzogen.
Heute bin ich das brave Mädchen, mit Faltenrock und frisch frisiertem Dutt. Dafür werden die halblangen Haare über einen dicken Plastikreifen gezogen und mit Nadeln und Klemmen festgesteckt. Gemocht habe ich die Frisur nie, die Herstellung war mit Bürsten und Ziepen verbunden und hielt sowieso nicht. Die Haare offen zu tragen, war eben so verboten wie lange Hosen, oder gar kurze Lederhosen. Meine Mutter hatte ihre Vorstellung, wie Mädchen auszusehen haben. Mädchenhaft, und ordentlich. Im Winter trage ich zu den ungeliebten Röcken kratzige Strumpfhosen oder lange Strümpfe. Ab Ostern darf ich Kniestrümpfe tragen, auch wenn es dafür eigentlich noch zu kalt ist. Egal, besser kalte Knie als die blöden Babystrumpfhosen.
Mein erwachsenes Ich findet sich wieder im Bild der Sechsjährigen, mit dem intensiven Blick, und lockerer Haltung. Standbein, Spielbein, die Schultüte schräg und der Körper im Halbprofil, so dass man den schicken roten Ranzen sieht. Der soll sich bald mit Büchern, Heften und schönen Stiften füllen. Der neue Lebensabschnitt schreckt mich nicht, ich will hinaus in die weite Welt. Lesen und Schreiben lernen, der bewunderten großen Schwester nacheifern, die schon so viel kann.
An diesem Tag geht es los, neue Geschichten und neue Menschen um mich herum. Bald darf ich den Schulweg allein gehen, und habe eigene Freundinnen, nicht mehr angewiesen auf die große Schwester, der ich lästig bin weil sie immer auf mich, die Kleine, aufpassen soll. Die Schule macht Spaß, gute Noten fallen mir nicht schwer. Ich lese viel und gerne und bin oft in der Stadtbücherei. Nachdem ich bewiesen habe, dass ich sie tatsächlich alle lese, darf ich mehr Bücher mitnehmen als eigentlich erlaubt sind. Die Bücherei am Kottbusser Tor ist meine Schatzkammer, die Sicherheit gibt und Unendlichkeit verspricht. So wächst aus dieser Liebe zu den Büchern der spätere Beruf als Bibliothekarin, der mich mit dem Goethe-Institut um die ganze Welt führt.
In den Jahren nach der Einschulung wird der Park zum Kampfgebiet der Indianerstämme, zum Versteck mit Freundinnen und öffnet neue Wege. In den Verkehrsgarten, wo mit Fahrrädern und Tretautos Straßenverkehr geübt wird, mit echten Ampeln. Zur Rollschuhbahn, wo man sich wunderbar die Knie aufschlagen kann. Einige Narben sind heute noch sichtbar. Zum Landwehrkanal mit seinen steilen Uferwänden, in dem Kinder ertrinken können. Der Schulweg führt über die Baerwaldbrücke, unter der Krebse hausen. Man kann sie mit der bloßen Hand fangen, wenn man sich traut und die steile Treppe neben der Brücke bis zur Wasseroberfläche herunter steigt. Das mache ich, auch wenn es nichts für Mädchen ist. Sagen die Jungs. Genau das weckt meinen Trotz, es doch zu tun.
2 Freiheit und Schokolade
Freiheit ist die Zeit mit meiner Oma. Die große Schwester ist bis nachmittags in der Schule, die Mutter in der Fabrik, der Vater kommt irgendwann am Vormittag von seiner Morgenrunde als Milchkontrolleur nach Hause. Er stört meine Kreise nicht, genau so wenig wie ich seine. Er sitzt am Schreibtisch im Wohnzimmer, raschelt mit Papieren und produziert Rauchschwaden, die lang und waagerecht im Zimmer liegen. Ich gehe in die dritte Klasse der Grundschule und finde Lernen wunderbar.
Wenn ich aus der Schule komme, erwartet mich die Oma mit dem aufgewärmten Mittagessen. Meine Mutter kocht am Nachmittag für den nächsten Tag, zu ihrem eigenen und unser aller Missvergnügen. So schmeckt es dann auch. Kohlrabi und Wirsing mag ich bis heute nicht. Das Abendbrot ist klassisch langweilig: Graubrot, Wurst, Käse, Gurken.
Manchmal aber duftet es mittags schon an der Wohnungstür. Milchreis! Heißgeliebte Speise mit Zucker und Zimt. Der Kissenberg im Bett, wo der einmal aufgekochte Reis langsam quellen darf. Am Nachmittag Hausaufgaben, und manchmal ’bummeln gehen’ mit der Oma. Vorbei an den Schaufenstern, mit Bonbons und Schokolade die sie aus der Tiefe der großen braunen Handtasche zaubert. Verziert mit Fusseln, aber das stört mich nicht.
Das Kottbusser Damm ist unsere Einkaufsstraße. Es gibt dort ein Fachgeschäft für feine Schokolade und Pralinen. Vor Ostern steht etwas unbeschreiblich Schönes im Schaufenster: Feinste Schokoladentäfelchen in einer Schachtel mit goldener Schrift, und einem Porzellanhasen, der mich ansieht. So ähnlich wie das Häschen in meinem Lieblings-Kinderbuch ’Ruth hat ein Geheimnis’.
Das Häschen erwacht nachts zum Leben und erzählt Ruth seine abenteuerliche Geschichte. Im Buch ist das Häschen ein Geschenk, und nur so kann ich mir das vorstellen. Keinesfalls will ich die luxuriöse Schokolade mit dem Häschen für mich selbst kaufen. Stattdessen soll es ein Geschenk für meine Schwester sein, die ich so bewundere. Sie ist sechs Jahre älter als ich, ein Teenager mit Nylonstrümpfen. Ihre Freundinnen tanzen manchmal Twist mit mir.

Das Verlangen ist stark, wie eine ’Große’ allein unterwegs zu sein und mein eigenes Geld auszugeben. Also zähle ich die Groschen und einige Markstücke, gespartes Taschengeld, mache mich in einem unbeobachteten Moment allein auf den Weg und kaufe das Luxusgeschenk. Süße Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen und als Kundin in einem Geschäft zu stehen. Das Geschenk einpacken zu lassen und mir das Gesicht der Schwester am Ostersonntag vorzustellen.
Vermutlich habe ich mich vertrödelt, nach meiner Rückkehr gibt es großen Ärger. Was mir einfällt einfach wegzulaufen. Das ist übertrieben, darf ich doch am Nachmittag stundenlang im Park vor unserem Haus spielen. Zur Schule gehe ich allein und zu Fuß, viel weiter als bis zum Kottbusser Tor. Meine Mutter versteht, dass es ein Aufbegehren ist, ein Austesten der Grenzen. Meine Verteidigung, ich hätte doch nur ein Geschenk zu Ostern gekauft, war nicht gelogen, aber scheinheilig. Wir wissen beide, es geht um die Freiheit, meinen eigenen Weg zu gehen.
Als meine Mutter mich vor vielen Jahren fragte, ob ich eigentlich noch Kontakt zu der kleinen Blonden – wie war noch mal ihr Name? ach ja, Christel – habe, wurde ich neugierig und schaute immer mal wieder nach ihr. Gestern las ich „Erste Aufbrüche“ und hatte sofort vor Augen wie Peppe, Peggy, Chrille, auch Moni und Tina ihre Welt erkundet haben. Wir haben in Baugruben und Abrißhäusern gespielt aber durch die Welt, die wir in den Büchern vorgefunden und verschlungen haben, hatten wir immer Kontakt nach „draußen“. Übrigens, hatte Uschi nicht so einen tollen Plattenspieler oder Tonbandgerät? Auf jeden Fall fand ich grandios, dass sie plötzlich verheiratet war – den Namen weiß ich auch noch – und uns ihre Wohnung in Neukölln zeigte.
Du hast einen Text verfasst, der mich daran erinnert, wo ich herkomme und wer ich bin.
Liebe Martina, wie schön von Dir zu hören. An das Spielen in Abrisshäusern erinnere ich mich auch noch. Wie ist es Dir ergangen, wo lebst Du jetzt? Ich krame gerade in weiteren Erinnerungen. Der nächste Text kommt bald. Ganz herzlich, Christel
Danke für deine schnelle Antwort, liebe Christel.
Seit dem Mauerfall lebe ich wieder in Berlin. Dadurch, dass wir eine „geteilte“ Familie waren, konnte ich hier meine Wurzeln besser fühlen. Stell dir vor, mein Sohn besuchte auch die Albert-Schweitzer-Schule und es gab noch einige unserer Lehrer. Herr Steinwachs, sein Klassenlehrer, konnte sich noch total gut an uns erinnern, da die Klassenfahrt damals für ihn eine Herausforderung darstellte. Er hat mir sogar Fotos von uns überlassen!
Ansonsten bin ich seit Mai Pensionärin und werde am 3.August zum xten Mal mit meiner Mutter zu den Rolling Stones gehen.
Ich freue mich auf dich und deine Erinnerungen – viele davon sind auch meine.
Es grüßt dich Martina
Liebe Martina, es war ein Plattenspieler … „Verheiratet-Sein“ war ja in den 70er Jahren für frau (noch) ein Statussymbol – die anderen waren ja nur „Fräulein“!
Ein literarischer Text, der Lust macht auf mehr, auch wenn die Geschichten eher traurig sind … Das Porzellanhäschen hat noch 30 Jahre im Regal gestanden – es war etwas Besonderes, auch wenn die „große Schwester“ die besondere Bedeutung als Teenager wohl eher fühlen als erklären konnte.
Danke für Deinen Kommentar! Stimmt, es sind keine fröhlichen Geschichten. Aber die Grundstimmung ist optimistisch, und kämpferisch.