Es ist – wie immer – beides. Die documenta ist seit 1955 eine Kunstausstellung mit politischer Aussage. Das Deutsche Historische Museum hat diesem Thema kürzlich eine Ausstellung gewidmet.
Jede documenta war von ’Skandalen’ umgeben. Die meisten wirken in der Rückschau fast niedlich. Oder würde heute jemand dagegen protestieren, 7000 Eichen zu pflanzen?

2022 aber ist alles anders. In der Ausstellung, die an 30 Orten Werke und Interventionen von ca. 1.400 Künstlerinnen und Künstlern zeigt, wurden antisemitische Darstellungen gefunden. Völlig zu Recht wurden diese entfernt. Leider ist dadurch der Blick auf die in Kassel präsentierte Kunst und die damit verbundenen politischen Aussagen sehr verengt.
Dieser Blog-Beitrag zeigt, was ich in zwei Tagen gesehen habe und welche Gedanken mir dabei gekommen sind.

Der Rundgang beginnt im Friedericianum. Ins Auge fällt die Aufschrift: „I am not exotixc I am exhausted“. In den Hallen zu sehen ist Kunst der Roma, außerdem diverse Archive von Bürgerrechtsbewegungen u.a. in Südafrika, Algerien und Surinam. Hier steht nicht, wie früher, die herausragende Künstlerpersönlichkeit im Mittelpunkt. Künstlerkollektive und politische Kämpfe um Anerkennung sind dieser documenta wichtiger.

Diskriminierung, Umweltzerstörung und die Folgen der Sklaverei während der Kolonialzeit sind Themen, die an vielen Orten der Ausstellung wieder begegnen. Die ’Gudskul’ des Kuratorenkollektivs ruangrupa zeigt, wie diese nachwirkenden Probleme durch neue Formen des gemeinsamen Lernens bearbeitet werden können.
Die Zerstörung durch Ausbeutung wird in Beziehung zu erzwungener Landflucht und Migration gesetzt.

Großformatige Installationen in der documenta Halle machen Gewalt und Ohnmacht in afrikanischen Städten erfahrbar.

Ein nachgebauter Marktstand zeigt, wie aus natürlichen Lebensmitteln Waffen werden. Konflikte um Fischgründe können Kriege auslösen.

Lokale Produkte werden durch industrielle Nahrungsmittel ersetzt: Hühnersuppe gibt es aus der Dose, produziert mit den Abfällen der Massentierhaltung in USA und Europa. Die Ikoneen westlicher Kunst werden zitiert und verfremdet, wie hier Andy Warhols ikonische ’Campbells Chicken Noodle Soup’.

Das Thema ’Essen’ wird in Gärten und Küchen praktisch verhandelt. In der ’Social Kitchen’ werden traditionelle Gerichte aus Bangladesch im Bambus-Pavillon neben der Ausstellungshalle gemeinsam gekocht, inmitten eines liebevoll angelegten Gemüsegartens. Im Hof eines ehemaligen Techno-Klubs wachsen Kräuter und Gemüse aus Vietnam um einen kleinen Teich. Das Saatgut stammt von Vietnamesen, die in Kassel leben. Der Garten soll als ‚lebendige Skulptur‘ nach der documenta weiter wachsen.

Im ehemaligen Hallenbad zeigte das indonesische Kollektiv Taring Padi großformatige Bilder. Diese wurden als politische Aktionskunst mit Landbewohnern gestaltet, und bei Festen und Umzügen gezeigt.

Die antisemitischen Darstellungen auf dem inzwischen abgehängten Banner erklären sich einerseits aus einer Ikonografie, die der Karikatur nahesteht. Andererseits waren westliche Geheimdienste (u.a. aus USA, Großbritannien, Israel und Deutschland) an politischen Verfolgungen und Massakern 1965 und während der darauf folgenden Diktatur in Indonesien beteiligt. Diese Ereignisse prägen die politische und gesellschaftliche Diskussion in Indonesien bis heute. Leider gibt es in der Ausstellung kaum Informationen zu diesem Hintergrund.

Kunst aus Haiti gibt es in einer ehemaligen, profanierten Kirche zu sehen. Der Raum ist mit Skulpturen und Wandbildern aus geschliffenem Glas gestaltet. An der Decke sind die Straßenzüge der Hauptstadt Haitis, Port-au-Prince, nachgebildet.

Auch in diesen Kunstwerken werden die Nachwirkungen der Sklaverei, die politische Geschichte Haitis, Armut und Umweltzerstörung deutlich.

Die Inhalte der Flaschen wirken auf den ersten Blick wie kostbare Schmuckstücke, sind aber ‚Fundstücke‘ aus dem Meer.
Es gibt noch vieles zu sehen, zu viel für einen Artikel und weitaus mehr als in zwei Tagen erfahrbar ist.
Aber das liegt durchaus in der Absicht der Ausstellungsmacher: „Die documenta verlangt dem Publikum viel ab. Sie ist nicht so angelegt, dass jeder alles gesehen haben muss, um sie zu erfahren“. So zitiert die Sondernummer der Zeitschrift Kunstforum zur ‚documenta fifteen‘ ein Mitglied des Kollektivs ruag rupa. Diese Publikation gibt einen guten Einblick, sie erklärt und ordnet ein, ohne in Polemik zu verfallen.

Es gibt noch vieles nachzulesen und nachzudenken zur documenta. Einige Werke waren schön anzusehen, andere verstörend, die meisten haben mich berührt.
Mein Fazit: es lohnt sich auf alle Fälle, nach Kassel zu fahren und die Ausstellung selbst anzusehen. Leider wurde durch die Skandale um einige wenige Werke die Gelegenheit verpasst, mit den Künstlerinnen und Künstlern über Postkolonialismus, ästhetische Praxis, Rassismus und Antisemitismus zu diskutieren. Im Moment scheint alles komplett verfahren. Die Beiträge von Eva Menasse im Spiegel und von Jürgen Zimmerer in der Berliner Zeitung schildern die Lage. Lesenswert ist auch ein Beitrag von Hans Eichel, dem ehemaligen hessischen Ministerpräsidenten, in der Frankfurter Rundschau. Er erwähnt auch die Unterstützung der damaligen deutschen Regierung für das Suharto-Regime. Dirk Moses erklärt den kolonialgeschichtlichen Hintergrund.
Die Probleme, die dem Skandal um die documenta zugrunde liegen, sind durch Schweigen oder feuilletonistische Empörung nicht zu lösen. Wir müssen reden.