Der Schritt über die Schwelle

Stralsund, Blick von der Hafenmole
Stralsund, Blick von der Hafenmole

Simone de Beauvoir beschreibt das Alter in ihrem Essay als Verfall und Verlust. Die Identität des Erwachsenen, aufgebaut über Jahre und Jahrzehnte, gehe verloren. Dabei sei das Ende des Berufslebens ein besonders starker Einschnitt.

Das empfinden offenbar viele Menschen so, wie die Zahl der Artikel und Ratgeber zeigt. Gelesen habe ich einige, wirklich hilfreich fand ich „Zeit für Neues: Wie Sie herausfinden, was Sie im Ruhestand machen möchten“ von Iris Seidenstricker.

Zeit für Neues: Wie Sie herausfinden, was Sie im Ruhestand machen möchten
Zeit für Neues: Wie Sie herausfinden, was Sie im Ruhestand machen möchten

Manche sagen, die ersten sechs Wochen sind wie Urlaub, und danach beginnt die große Leere. Meine Erfahrung ist: es fühlt sich einfach gut an. Ohne Wecker aufwachen, reisen und spazieren gehen, ohne auf Feierabend oder Wochenende zu warten. Und abends ohne Sorge noch eine Folge der Serie oder das nächste Kapitel im Buch zu genießen. Die große Leere habe ich nicht gespürt, eher eine große Unternehmungslust.

Aus dem Freundeskreis (inklusive ehemaliger Kolleg*innen) höre ich viel Positives. Gelegentlich wird ein Mangel an Kontakten beklagt, und einige Ex-Kollegen leiden unter „Bedeutungsverlust“.  Es stimmt, man muss sich nun selbst um Kontakte bemühen. Freundlichkeit und Interesse, die mir aufgrund meiner beruflichen Position entgegen gebracht wurden, fallen weg. Ich muss selbst aktiv werden, meine Persönlichkeit in die Waagschale werfen, offen für andere werden, zuhören und mich engagieren, zum Beispiel im Kunstverein Stralsund.

Exkursion mit dem Kunstverein, 2022

War das Ende des Berufslebens für mich die Schwelle zum Altern? Wollte ich deshalb arbeiten, so lange es geht? Schon möglich, aber vor allem habe ich gern für das Goethe-Institut gearbeitet. Meinen Beruf als Bibliothekarin hatte ich immer geliebt, und die Entwicklung dieser Position im Goethe-Institut zur Managerin von Informationen, Öffentlichkeitsarbeit, Literaturprojekten und anderen spannenden Vorhaben habe ich vorangetrieben und mit gestaltet. Der Posten in Athen, den ich 2018 antrat, entsprach allen Wünschen, es war die Rückkehr in eine Stadt und ein Land, das ich liebe. Warum also die Überlegung, früher aufzuhören?

Athen, Akropolis
Athen, Akropolis

Mein Mann war nach regulärem Rentenbeginn schon länger nicht mehr berufstätig. Die gemeinsame Freiheit lockte. Also stellte ich eine Anfrage bei der Rentenversicherung: was wäre denn möglich? Und wann? Die Antwort war: Rentenbeginn 2021, im Alter von 63, falls die Nachweise der Versicherungsjahre komplett sind. Das waren sie, und die Abschläge zu verkraften. Noch beim Absenden der Papiere war ich mir nicht sicher, aber dann, im Frühjahr 2020, begann die Pandemie. An einem Freitagnachmittag waren alle Bars und Cafés in der Athener Innenstadt geschlossen. Stille, wo sich sonst die Feierabend-Freunde mit Küsschen und Drinks zusammenfinden.

Athen, Graffiti in der Pandemie

Die Arbeit schrumpfte zusammen zu endlosen Online-Meetings und noch mehr Mails. Keine Projekte, kein Publikum, die neu umgebaute Bibliothek – eine der schönsten, in der ich je arbeiten durfte – blieb geschlossen. Lockdown, das hieß: keine Ausflüge ans Meer, keine Cafés, keine Restaurants. Und dann wurde klar, dass mein Mann und ich diese Krankheit nicht bekommen dürfen. Schon gar nicht in einem Land, dessen Krankenversorgung (auf Drängen des deutschen Finanzministers) in der Euro-Krise extrem zusammengespart worden war. Diese Umstände haben den Entschluss, mein Rentnerleben zu beginnen, sehr beschleunigt.

Stralsund, Blick von der Hafenmole
Stralsund, Blick von der Hafenmole

Wir wollten nach Norden, nah an die Ostsee. Stralsund war die richtige Stadt: nicht zu groß, nicht zu klein, aber fein und mit schöner Altstadt. Also haben wir dort eine Wohnung gesucht und bald gefunden. Im Oktober 2020 wollten wir zur Übergabe und Anmeldung eine Woche in der Stralsund bleiben – dann kam der strenge Lockdown. Mein Abschied vom Berufsleben fand im Februar 2021 online am Küchentisch statt. Keine Party, kein Sekt. Nach mehr als 40 Berufsjahren war es einfach vorbei. Die Schwelle war überschritten.

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